Hightech in der Medizin:
Gut vernetzt zum Wohle der Patienten
Das neue Center for Digital Neurotechnologies Saar und das INM – Leibniz-Institut für Neue Materialien werfen einen Blick in die nahe Zukunft und zeigen, warum sowohl Neurotechnologie als auch Materialwissenschaft im Saarland bereits Leuchtturmprojekte sind.
Computeroptimierte Operationsmethoden, verbesserte Behandlungsmethoden in der Geburtsmedizin oder die frühzeitige Erkennung von Krankheiten durch die Erhebung von Gesundheitsdaten: Im Zeitalter der Digitalisierung verschmelzen Medizin und Technik immer stärker. Deshalb erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Saar-Uni, der htw saar sowie des Zentrums für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA) im Center for Digital Neurotechnologies Saar (CDNS), wie die engere Verzahnung von Mensch und Computer insbesondere auf dem Feld der Medizin in Zukunft kontinuierlich verbessert werden kann. Das interdisziplinäre Zentrum CDNS wurde Anfang 2022 auf dem Campus Homburg der Universität des Saarlandes eingerichtet und vernetzt dort mit der Universitätsmedizin, der Informatikforschung und der Saarwirtschaft einen großen Talentpool, eine hochwertige Hochschullandschaft und Partner- sowie Tech-Netzwerke.
Übertragung menschlicher Nähe und Berührungen durch das Internet
Verschiedene Projekte des Techhubs werfen einen Blick in die nahe Zukunft, die längst mehr ist als Science-Fiction. So geht es zum Beispiel bei dem Forschungsprojekt „Multi-Immerse“ darum, schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen im Universitätsklinikum des Saarlandes virtuelle Besuche ihrer Angehörigen in einem speziellen digitalen Raum zu ermöglichen. VR-Brillen (VR steht für „Virtuelle Realität“) sind das wohl bekannteste Beispiel „immersiver Technologien“, mit deren Hilfe wir in virtuelle Welten eintauchen. Sie nutzen aus, dass sich das menschliche Gehirn – eigentlich ein erstaunliches Meisterwerk – relativ einfach austricksen lässt. Denn das Gehirn kann vieles, aber nicht in zwei unterschiedlichen Welten gleichzeitig sein. Wenn sich Menschen also eine dieser VR-Brillen aufsetzen, auf denen ein Strandfilm abläuft, dann haben sie irgendwann das Gefühl, am Strand zu sein, weil sie ja nichts anderes zu sehen und zu hören bekommen als einen Strand und das Geräusch von Wellen. Beim Sehen und Hören machen die Forschenden des CDNS allerdings nicht halt. Sie forschen mit vielen Tech-Partnern an multisensorisch-immersiven Technologien, das heißt, sie wollen uns eine leichte Brise am Strand auch noch fühlen und in Zukunft vielleicht sogar die Seeluft riechen lassen.
Die psychosozialen Möglichkeiten dieser Technologie nutzt das Projekt „Multi-Immerse“ dazu, schwer erkrankten Kindern, die ihre Familien nicht treffen dürfen, bestmöglichen Ersatz zu bieten. Eine Alternative, die intensiver, unmittelbarer und sinnlich erfahrbarer ist als ein Videocall oder selbst ein Elternbesuch, bei dem sich die Familie doch in zwei unterschiedlichen Räumen aufhält und durch eine Fensterscheibe getrennt ist. Der therapeutische Nutzen ist evident: Stresshormone fallen in Anwesenheit der Eltern bei Kindern messbar ab, die Nähe ist ein Heilmittel.
„Informatiker etwa befassen sich mit der Frage, wie man die Berührung aufnimmt und das Zentrum für Mechatronik mit der Weiterleitung an das Kind. Neurowissenschaftler optimieren die emotionale Erfahrung bei der übertragenen Berührung“, beschreibt Professor Daniel Strauss, Sprecher des CDNS, die interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Um zu klären, ab welchem Alter der Einsatz sinnvoll ist, ist auch die Homburger Kinderpsychiatrie mit involviert“, fügt er hinzu. Das Projekt „Multi-Immerse“ wird derzeit in der Kinderklinik Homburg realisiert, soll im Anschluss aber auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens Anwendung finden.
NeuroSensorik in Kombination mit KI als Frühwarnsystem
Auch bei dem Projekt „Digital Scrubs“ werden Medizin und Informatik eng miteinander verknüpft. Dabei sollen OP-Teams in Krankenhäusern künftig interaktive Assistenzsysteme zur Seite gestellt werden, die „Aufmerksamkeitsressourcen“ optimieren. Schon heute sind Operationen hochtechnisierte, minutiös getaktete Prozesse in OP-Trakten voller Bildschirme. Der Ansatz „neues Gerät, neuer Bildschirm, neuer Alarmton“ verliert im Zusammenwirken mehrerer Geräte allerdings seine Effizienz. Auch führt die zunehmende Vernetzung innerhalb des OP zu mehr Daten, aus denen wertvolle Informationen zur Verbesserung des Eingriffs abgeleitet werden können. Der Nutzen dieser Informationen zur Verbesserung eines Eingriffs ist derzeit allerdings durch die Aufmerksamkeitsressourcen des OP-Teams beschränkt.
Das Projekt „Digital Scrubs“ beschäftigt sich deshalb damit, wie relevante, KI-gestützte OP-Infos ans Chirurgieteam optimal übermittelt werden können und welche Vorteile es hätte, wenn Chirurginnen und Chirurgen ihre Sinne durch AR-Technologie erweitern würden. AR steht für „Augmented Reality“ und bedeutet „erweiterte Realität“, wobei die Forschung am CDNS neben den bekannten AR-Brillen auch das Multisensorische umfasst. Anders als bei VR-Brillen wird die Realität dabei nicht ausgeblendet, sondern AR ermöglicht es der oder dem Operierenden, mit hochauflösenden 3D-Scans ins Patienteninnere zu blicken. „Über die Brille zeigt die KI dem Chirurgen, wo er schneiden soll, auf Basis von Daten, die während der OP in Hochgeschwindigkeit ausgewertet werden“, erklärt Professor Daniel Strauss.
Gleichzeitig soll KI auch eingesetzt werden, um individuell auf die kognitive und emotionale Verfassung des OP-Teams durch spezielle Neurosensorik, zum Beispiel in den OP-Kleidern, einzugehen. „Wenn der Chirurg visuell und akustisch belegt ist, weil er gucken muss, wo er schneidet, und auch noch mit dem OP-Team redet, muss die KI ihm anders mitteilen, dass er um Gottes Willen nicht weiterschneiden darf“, erläutert Professor Strauss. Das könnte zum Beispiel haptisch erfolgen: durch ein Vibrieren der Weste. Vereinfacht gesagt: Neurosensorik soll als Frühwarnsystem wirken und durch das „Aufmerksamkeits-Assistenzsystem“ OP-Fehler minimieren.
Mit diesem multidisziplinären Forschungsprogramm ist Saarbrücken international führend auf dem Gebiet der lebenden Materialien.»
Prof. Dr. Wilfried Weber ist seit Kurzem Wissenschaftlicher Geschäftsführer des INM – Leibniz-Institut für Neue MaterialienMaterialwissenschaft und Biotechnologie verknüpft
Auch das INM – Leibniz-Institut für Neue Materialien arbeitet interdisziplinär. Fachleute aus Materialwissenschaft, Physik und Chemie, aber auch aus der Biologie, Pharmazie und Medizin forschen unter anderem daran, Materialien so zu verändern, dass diese nützliche neue Eigenschaften annehmen: Zerkratzte Lacke heilen sich selbst, Kunststoffe erhalten die Transparenz von Glas und sind dennoch bieg- und knickbar, oder synthetisch hergestellte Materialien werden mit Eigenschaften von natürlichen, lebenden Zellen ausgestattet und dadurch anpassungsfähig und programmierbar gemacht.
Ein wesentlicher Fokus der INM-Forschung liegt auf der Übertragung von biologischen Prinzipien auf das Design neuer Materialien, Strukturen und Oberflächen. Seit März 2023 erweitert und vertieft Professor Wilfried Weber mit seinem Fachgebiet, der materialorientierten synthetischen Biologie, das Forschungsspektrum des Instituts. Weber ist im Tandem mit Professorin Aránzazu del Campo Wissenschaftlicher Geschäftsführer des INM und zugleich Professor für Neue Materialien an der Universität des Saarlandes. Zu seiner Forschung an „lebenden Materialien“ erklärt er: „Der große Vorteil von Organismen ist ihre Fähigkeit, zu spüren, was in ihrer Umwelt passiert, und sich daran anzupassen. Wir übertragen die dafür verantwortlichen biologischen Sensoren und Schalter in Materialien. Auf diese Art konstruieren wir neue Materialien, die ihre Eigenschaften auf die Umgebung abstimmen.“ Sein Team setzt für die minutiöse Steuerung von Genen, Zellen und Materialien vor allem Licht ein und ist damit international führend auf dem Forschungsgebiet der molekularen Optogenetik. „Wir übertragen Mechanismen, wie Pflanzen auf Licht reagieren, in Zellen und diese wiederum in Materialien. So können wir die Eigenschaften der daraus entstehenden lebenden Materialien steuern. Wir sind zum Beispiel in der Lage, über Licht die Stabilität eines Materials zu programmieren“, erläutert Wilfried Weber. Grundsätzlich ist seine Forschung dabei auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. In einem seiner Projekte programmiert er Zellen so, dass aus Holzabfällen wie Sägespänen wieder neue Holzwerkstoffe entstehen – als biologisches Upcycling.
Dass der renommierte Biotechnologe, der an der Universität Freiburg im Leitungsteam eines Exzellenzclusters mitwirkte, in das Saarland gewechselt ist, liegt für ihn in der Stärke und Vielfalt des Saarbrücker Forschungsstandortes begründet: „Die kurzen Wege und die kollegiale Zusammenarbeit über Fächergrenzen und Institute hinweg sind eine der großen Stärken des Saarbrücker Campus.“ Ein Beispiel hierfür ist der Leibniz Science-Campus „Lebende Therapeutische Materialien“. Hier bündeln das INM, die Saar-Universität und das Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) ihre Expertise, um ganz spezielle lebende Materialien zu entwickeln, die Arzneistoffe produzieren und diese maßgeschneidert und kontrolliert in den menschlichen Körper abgeben. „Mit diesem multidisziplinären Forschungsprogramm ist Saarbrücken international führend auf dem Gebiet der lebenden Materialien. Es gibt in Europa nur zwei weitere große Standorte in diesem stark wachsenden Forschungsfeld.“