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Über die Erfindung der industriellen Revolution 4.0.


So gelingt die Fabrik der Zukunft

Reifen melden sich, bevor sie abgelaufen sind. Hydrauliköl wird nicht in Intervallen ausgetauscht, sondern wenn es nötig ist. Industrielle Künstliche Intelligenz macht neue Services für bestehende Produkte möglich – eine Wachstumschance für die deutsche Industrie.

Die Autofabrik der Zukunft. Eine lichtdurchflutete, 30 Fußballfelder große Halle. 400 fahrerlose Transportfahrzeuge bringen Antriebe, Karosserien und Fahrzeugteile an ihren Verarbeitungsort. Gebaut wird nach Bestellung. Ganz egal, ob Limousine, SUV oder Kompaktwagen. Mit Hilfe von Hängedrehförderern, Schubplattformen und Robotern hieven Mitarbeiter Fahrzeugteile in optimale Arbeitspositionen. Verbunden ist alles mit allem. Maschinen, Anlagen, Fahrzeuge und über Datenbrillen oder Tablets auch der Mensch. Eine Hochleistungsvernetzung aus W-Lan und 5G-Mobilfunk stellt sicher, dass alle Daten der gesamten Wertschöpfungskette des Herstellers zugutekommen. „Factory 56″ nennt Daimler sein Konzept einer Autofabrik der Zukunft, das schrittweise auf alle Mercedes-Benz-Pkw-Werke übertragen werden soll.

Industrie 4.0 – Eine Idee aus dem Saarland

Wenn Maschinen, Geräte, Sensoren und Menschen sich miteinander vernetzen, reden wir von der vierten industriellen Revolution, kurz „Industrie 4.0″. Eine deutsche Erfolgsgeschichte. Zu der das Saarland wichtige Kapitel beigesteuert hat. Denn hier findet sich eine in seiner Dichte seltene Kombination von exzellenten Unternehmen und Forschungseinrichtungen mit Kompetenzen in den Bereichen Hardware, Software und Konnektivität – also die wesentlichen Treiber für die Realisierung von Industrie 4.0-Konzepten. So wundert es kaum, dass die Idee zum Begriff von einem Saarländer stammt. Wolfgang Wahlster trug ihn zur Hannovermesse 2011 mit den Physikern Henning Kagermann und Wolf-Dieter Lukas erstmals in die Öffentlichkeit. „Wenn das Internet in die Fabriken kommt, haben wir cyberphysische Systeme”, sagt Wahlster, der bis 2019 Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken war. „Uns war aber klar, dass wir etwas Griffigeres brauchten, obwohl cyberphysische Produktion fachlich korrekt ist.” So entstand der Begriff der „Industrie 4.0″, der auch in internationalen Veröffentlichungen heute oft mit „ie” geschrieben wird. Ein Hinweis darauf, dass man nicht das Silicon Valley kopieren muss, um in der digitalen Ära Erfolg zu haben. „Unser Ansatz war es, Zentren technologischer Forschung sehr nahe an industrielle Ökosysteme heranzuziehen”, sagt Wahlster, ein weltweit renommierter Experte für Künstliche Intelligenz im industriellen Kontext. „Das Saarland ist ein Produktions- und Autoland. Da macht es absolut Sinn, sich dort jetzt intensiv mit industrieller Künstlicher Intelligenz zu beschäftigen.” Zumal im kleinen Saarland die Wege zwischen industrieller Produktion, Wissenschaft und politischen Entscheidern so kurz sind wie sonst kaum in Deutschland.

Roboter bewegen sich schon mal so, wie es der Mensch gerade nicht erwartet.»

Tim Schwartz

Roboter mit Feingefühl

Durch das Zusammenwirken der Datenströme in Echtzeit tritt Industrie 4.0 in eine neue Phase ein – kombiniert mit schnellen 5G-Netzen, optimiert mit Künstlicher Intelligenz (KI). Roboter lernen Arbeitsschritte in Umgebungen, die ihren zukünftigen realen Einsatzorten entsprechen. Mit dem „Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik” (ZeMA) besitzt das Saarland ein ideales Testfeld für derlei Anwendungen. Airbus, VW, Bosch, Festo und andere Industriegrößen haben dessen Expertise bereits genutzt.

Wer die Halle in Saarbrücken betritt, hört das Surren von Drohnen. In einem durch Netze gesicherten Bereich schwirren die Fluggeräte über Industrie-Robotern, die mit menschlichen Kollegen gemeinsam in einer Werkstatt arbeiten. „Roboter bewegen sich schon mal so, wie es der Mensch gerade nicht erwartet”, sagt Tim Schwartz, der sich am DFKI mit kognitiven Assistenzsystemen beschäftigt. „Aber ein Mensch soll nicht bedroht werden, sich nicht mal so fühlen.” Die Daten aus der Drohnen-Kamera stellten sicher, dass der Roboter die Nähe eines Menschen erfasst und seine Bewegung bereits vor dem Kontakt abbricht. „Das neuronale Netz des Roboters ist dabei die ganze Zeit mit dem Kamerabild verbunden”, sagt Schwartz.

Die Roboter-Mensch-Interaktion muss nahtlos vonstattengehen um eine individualisierte Produktion zu ermöglichen. Tim Schwartz forscht zu kognitiven Assistenzsystemen am DFKI in Saarbrücken.

Ein zukunftweisender Test. Moderne Leichtbau-Roboter halten dank ihrer intrinsischen Sensorik zwar inne, wenn die Gegenkraft zu groß wird. „Das ist aber keine Kollisionsvermeidung”, sagt Schwartz. „Dann hat es meist schon gekracht.” Die Lösung könnte ein Roboter sein, der schon vorher stoppt, etwa der APAS von Bosch.

Bei bisherigen Einsätzen in der Industrie habe sich gezeigt, dass Menschen mit ihren sensorischen und kognitiven Fähigkeiten sich nach wie vor schneller an neue Umgebungen und Aufgaben anpassen können als Roboter, sagt Rainer Müller, wissenschaftlicher Geschäftsführer des ZeMA. „In der Wahrnehmung und Vorausschau von Situationen ist der Mensch den technischen Systemen noch überlegen, wie auch die Herausforderungen bei der Einführung von autonom fahrenden Fahrzeugen im Straßenverkehr zeigen.“ Wenn KI-Technologien Daten auswerten und sich daraus Handlungsempfehlungen ableiten lassen, brauchte es Müller zufolge auch in Zukunft die Expertise der Ingenieure, diese Empfehlungen zu hinterfragen und möglicherweise abweichende Entscheidungen zu treffen.

Denn Künstliche Intelligenz soll die individualisierte Produktion vorantreiben, ohne den Menschen auszuklammern. Für Antonio Krüger, CEO des DFKI, ist sie der zentrale Faktor für den Erfolg von Industrie 4.0. „KI ermöglicht für individuelle Kunden die preislich konkurrenzfähige Produktion von Einzelanfertigungen oder Kleinstserien.“ KI helfe bei der Flexibilisierung der Lieferketten, der Qualitätssicherung sowie bei der Schonung von Ressourcen und beim Recycling. Kleine und mittlere Unternehmen könne sie in projektorientierte Produktionsverbünde verwandeln. „Industrielle KI für das Management von Produktionslinien hilft auch dabei, Umrüstzeiten zu reduzieren“, sagt Philipp Slusallek, Standortleiter des DFKI.

Cobots, also Roboter, die Hand in Hand mit Menschen arbeiten, gelten als Wegbereiter einer flexiblen Produktion bis hin zur „Losgröße 1″ – einer umfassenden Individualisierung der Produktion, die bereits heute in der Automobilindustrie Realität ist. Der Variantenreichtum jedes Modells sorgt dafür, dass bald fast jedes Auto ein Unikat ist.

„Wir müssen nicht nur Menschen weiterbilden, sondern auch Maschinen”, sagt Andreas Schütze, Professor für Messtechnik an der Universität des Saarlandes. Sein Team forscht derzeit an einem neuen Wartungssystem, das Zustandsdaten von Maschinen feststellt und interpretiert. „Künstliche Intelligenz funktioniert durch Mustererkennung”, sagt Schütze. „Passiert etwas völlig Neues, stößt so ein System an seine Grenzen. Wir erkennen mit der sogenannten Novelty Detection auch unbekannte Vorfälle.”

Wir müssen nicht nur Menschen weiterbilden, sondern auch Maschinen.«

Andreas Schütze

Team aus Saarbrücken forscht am Unbekannten

Im ZeMA wird derzeit in einer Testreihe die Abnutzung von Stoßdämpfern untersucht. Jedes Gerät vibriert, rüttelt, brummt oder erhitzt auf seine ganz eigene Weise. Condition Monitoring, also die ständige Überwachung des Zustandes durch KI, ist geldwertes Wissen für jedes Industrieunternehmen. Ein KI-gestütztes Multisensorsystem, das etwa die Viskosität von Öl messen und auf den optimalen Zeitpunkt zum Austausch hinweisen kann, ist besser als eine starre, intervallbasierte Wartung. Am Thema vorausschauende Wartung arbeitet auch das von August-Wilhelm Scheer gegründete Start-up IS Predict in Saarbrücken. „Vorausschauende Wartung verhindert ungeplante Stillstände, ermöglicht Termintreue und Planungssicherheit,“ sagt Slusallek.

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Das Rückgrat der KI muss dabei nicht unbedingt ein Rechenzentrum sein. Beim Edge Computing werden Daten direkt an der Quelle verarbeitet und in Echtzeit verfügbar gemacht. „Gerade produzierende Unternehmen sind vorsichtig mit Daten”, sagt Schütze. „Sie wollen nicht, dass ein Konkurrent ablesen kann, wie viele Stückzahlen gerade produziert werden.” Spezialrechner in der Fabrik, Auswertung direkt vor Ort – ein Zukunftsmodell, zu dem im Saarland ebenso praxisnah geforscht wird wie zur digitalen Veredelung von Bestandsanlagen, Energieinformatik oder der Mensch-Roboter-Kollaboration.

Beim Edge Computing hat Deutschland weltweit derzeit noch einen Vorsprung von zwei bis drei Jahren, wie Wolfgang Wahlster schätzt. Umso wichtiger erscheint es deshalb, jetzt in Standorte zu investieren, die Geschäftsmodelle „as-a-Service” ermöglichen. Kunden erhalten damit zusätzlich zum Produkt eine durch KI ermöglichte Dienstleistung. Michelin etwa bietet intelligente Reifen für Flugzeuge an, die die Anzahl der Landungen misst und den Verschleiß meldet. Wenn eine Schweißstation von Bosch in Indien ein halbes Prozent besser arbeitet, werden alle Stationen des weltweiten Netzwerks angepasst. Die Fernwartung von Geräten oder das Einspielen von Updates geschieht im Hintergrund, der Mensch greift nur ausnahmsweise ein. Am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik in Saarbrücken forscht Andreas Schütze mit seinem Team zu KI-gestützten Wartungssystemen. Ziel der Forschung ist es industrielle Anwendungen effizienter aber auch sicherer zu gestalten.

Neue Batterienfabrik entsteht im Saarland

Und doch geht es nicht ohne Manpower. Im industriellen Bereich brauchen wir neben Daten auch Ingenieurwissen, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hat. Wer ein kompliziertes Getriebe anhand von Geräuschdaten analysieren will, muss erst wissen, wie so ein Getriebe überhaupt funktioniert. Industrie 4.0 war stets als Verschmelzung des Wissens und der Tätigkeitsfelder von Ingenieuren und Informatikern gedacht.

Am besten funktioniert dies in Regionen, in denen Industrie und Forschung bereits eng vernetzt sind wie im Saarland. Demnächst steht für das Bundesland eine der größten Industrie-Ansiedlungen seiner Geschichte an. Der chinesische Hersteller SVolt plant, bis 2023 nach und nach im saarländischen Überherrn auf dem Linslerfeld und in Heusweiler-Eiweiler eine Produktion von kobaltfreien Batterien für die Autobranche hochzuziehen. Rund 2000 Arbeitsplätze sollen entstehen. Für die Autofabrik der Zukunft ist das Saarland also bereit. Vielleicht sollte Daimler die nächste Factory 56 in Saarbrücken bauen.

Erschienen im Rahmen einer Content-Kooperation mit dem Verlag der F.A.Z.