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Materialforschung: Saarländische Experimente im Weltall


Wie Tricks der Natur zu Technik werden

Wenn ein Offshore-Windpark Sturm und Wellen trotzt, wenn „Geckofüße“ Weltraumschrott einfangen oder ein Gleitlager besonders lange durchhält, steckt dahinter Materialforschung aus dem Saarland. Die Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und die kurzen Wege zu Industrie und Politik sind dabei ein großes Plus.

Phänomene der Natur auf die Technik zu übertragen faszinierte bereits Leonardo da Vinci. Der Universalgelehrte tüftelte schon 1505 daran, den Vogelflug durch Flugmaschinen nachzuahmen. Seitdem die Flügelfrucht des Ahorns bei der Entwicklung des Propellers Pate stand, sind viele Technikideen auf Naturbeobachtungen zurückzuführen, wie etwa Winglets an den Flügelspitzen, mit denen Vögel Kraft sparen – und Flugzeuge Treibstoff.

„Die biologische Evolution hat durch Zufall und Irrtum viele interessante Prinzipien gefunden, die naturgemäß ressourcenschonend sind und nicht auf potentiell toxischen Chemikalien beruhen“, sagt Eduard Arzt, Wissenschaftlicher Direktor und Leiter der Forschungsgruppe Funktionelle Mikrostrukturen am INM – Leibniz-Institut für Neue Materialien in Saarbrücken. Das INM ist mit 260 Mitarbeitern ein internationales Zentrum für Materialforschung und kooperiert mit Instituten und Unternehmen in aller Welt. So untersuchten Forscher vom INM gemeinsam mit der Universität of California in San Diego anhand von Knochen und Federn die Verbesserung des Auftriebs bei fliegenden Vögeln. Am INM wird zudem an Augen der Motten geforscht, die mit ihrer Nanostruktur kein Licht reflektieren, was die Nachtsichtfähigkeit erhöht. Die Forschung in Saarbrücken trug zur Entwicklung neuer optischer Anti-Reflex-Oberflächen bei. Oberflächen sind ein entscheidender Punkt der Bionik, angefangen vom Klettverschluss, den Georges de Mestral 1956 nach dem Vorbild der Klettfrüchte entwickelte, bis hin zu den Riblet-Folien, deren Vorbild die scharfkantigen feinen Rillen in der Haut von Haien sind. Ab 2022 sollen Lufthansa-Transportflugzeuge mit einer solchen Folie ausgerüstet werden, die den Reibungswiderstand senkt.

Den Weg von der Forschung in die Industrie schaffen Ideen aus der Natur besonders schnell im Saarland, denn hier sind die Wege zwischen Wissenschaft, Industrie und politischen Entscheidern so kurz wie sonst kaum wo in Deutschland. Beim EU-geförderten Projekt STICK2SEE etwa geht es darum, die Eigenschaften von Geckofüßen für industrielle Anwendungen zu nutzen. Mit Abermillionen von mikroskopisch kleinen Härchen haften die Reptilien wie von Zauberhand an verschiedenen Oberflächen. „Wir haben sehende Greifersysteme in der Entwicklung, die mitdenken und damit die Zuverlässigkeit entscheidend verbessern“, sagt Arzt. „Vor allem für Mikroobjekte, die kleiner als ein Staubkorn sein können, werden neue Greif- und Platziersysteme dringend gebraucht.“ Anwendungen im Bereich Displayfertigung, Medizintechnik und Weltraum seien bereits erkennbar. Auch kommerziell wird das Gecko-Prinzip bereits im Saarland vermarktet: Die INM-Ausgründung INNOCISE GmbH in Saarbrücken entwickelt damit nachhaltige und präzise Greiflösungen. „Im Gegensatz zu Sauggreifern fällt bei der Gecko-Technologie kein Energiebedarf an, und sie funktioniert auch bestens unter Vakuumbedingungen“, erklärt Marc Schöneich, CEO von INNOCISE. Würde ein Großteil der Greifsysteme weltweit durch dieses System aus dem Saarland ersetzt, könnten – so zeigen Modellrechnungen – Millionen von Tonnen CO₂ jährlich eingespart werden.

Die Ausbreitung von Keimen über Kontaktflächen ist nur bei einer unkritischen Lebens- und Wachstumsfähigkeit der Mikroorganismen auf den Kontaktoberflächen möglich.«

Dominik Britz

Weltraumschrott einfangen — mit einer Idee aus dem Saarland

Gecko-Technologie kann dabei helfen, Weltraumschrott zu entfernen. Einen am INM mitentwickelten Mechanismus zum „Einfangen“ von Weltraumschrott testete die Crew der Internationalen Raumstation (ISS) unter Weltraumbedingungen bereits erfolgreich. Von der NASA entwickelte Astrobees, kleine fliegende Roboter, statteten Techniker mit Saarbrücker Gecko-Haftstrukturen aus. Diesen gelang es, Weltraumschrott zu greifen – konventionelle Sauggreifsysteme würden im Vakuum des Weltalls nicht funktionieren. Im Herbst 2021 soll mit Matthias Maurer ein Materialwissenschaftler aus dem Saarland seinen ersten Raumflug zur ISS absolvieren. Maurer wird dort an Technologien forschen, die der Ausbreitung von Keimen entgegenwirken. Kupfer etwa wirkt auf Bakterien, Viren und Pilze abtötend. Forscher haben dafür komplexe Erklärungsansätze: Kupferoberflächen können die Zellwand der Bakterien destabilisieren, und Kupferatome können sich anschließend an die DNA der Keime binden und deren Zellteilung stoppen. Die Saarbrücker Materialwissenschaftler möchten durch den Einsatz im All herausfinden, wie sich auf Oberflächen aus Kupferwerkstoffen und Edelstahl in der Schwerelosigkeit Keime ansiedeln und wie eine nanometergenaue Laserstrukturierung in Kombination mit antimikrobiellen Eigenschaften verhindern kann, dass sich Bakterienstämme ausbreiten.

„Der Laser verändert Oberflächen berührungslos und auch ohne Chemie“, sagt Frank Mücklich, Materialforscher an der Universität des Saarlandes und Direktor des Material Engineering Center Saarland. „Mit einem einzigen Schuss gezielt überlagerter Laserpulse bildet er ein mikroskopisch perfektes, periodisches Relief und verändert die Oberfläche maßgeschneidert für die jeweilige Funktion, beispielsweise um ein Hundertstel eines Haares. Genug, um Bakterien die Haftung zu erschweren und das Wachstum von kritischen Biofilmen zu minimieren oder gar zu verhindern.“

Die Forschung im All unterstützt die Experimente der Forscher in Saarbrücken, die aktuelle Brisanz besitzt. Denn die Gefahr durch gefährliche Erreger auf Kontaktflächen, die die Menschen berühren, hat sich durch COVID-19 verstärkt. Patienten auf den Stationen müssen vor weiteren Infektionen geschützt werden. Rund 500.000 Menschen erleiden laut Robert Koch-Institut jährlich eine Infektion im Krankenhaus. „Die Ausbreitung von Keimen über Kontaktflächen ist nur bei einer unkritischen Lebens- und Wachstumsfähigkeit der Mikroorganismen auf den Kontaktoberflächen möglich“, sagt Dominik Britz, CEO eines Start-ups aus dem Material Engineering Center Saarland, des auf modernste Oberflächenfunktionalisierung durch Lasertechnik spezialisierten Unternehmens SurFunction in Saarbrücken. Derartig mikrostrukturierte Oberflächen können Bakterien, aber auch Pilze und wahrscheinlich sogar Viren auf Oberflächen abwehren oder gar abtöten.

Wie künstliche Intelligenz der Materialforschung hilft

Metallische Werkstoffe weiterzuentwickeln ist die Leidenschaft von Frank Mücklich. Mit seiner Arbeitsgruppe in Saarbrücken untersucht er den Zusammenhang zwischen dem mikroskopischen Innenleben der Werkstoffe und den damit steuerbaren Eigenschaften. Er begnügt sich nicht damit, Erkenntnisse nur wissenschaftlich zu publizieren. „Mir geht es darum, dass die Fähigkeiten der Werkstoffe ihren Weg in den Alltag finden“, sagt Mücklich. Um einen schnellen Transfer für Kooperationen mit der Industrie zu schaffen, wurde 2009 das Steinbeis Forschungszentrum Material Engineering Center Saarland (MECS) gegründet. Nicht zuletzt wegen der Orientierung auf industrielle Anwendungen genießt die Materialforschung im Saarland internationales Renommee.

Da das Saarland ein Autoland ist, sind die Bande zur Autoindustrie und Zulieferern wie etwa Bosch und Schaeffler besonders eng. Mücklich nennt ein Beispiel. „Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Gleitlager. Gemeinhin würde man denken, wenn die Flächen möglichst glatt sind, wird das Gleitlager wohl am längsten funktionieren. Aber das Gegenteil ist der Fall.“ Mücklich konnte nachweisen, dass bei einer maßgeschneiderten, mikroskopisch feinen Strukturierung der Oberfläche das Gleitlager wesentlich stabiler ist und weniger schnell verschleißt. Zu sagen, die Forscher an der Universität des Saarlandes würden Millimeterarbeit machen, wäre eine Untertreibung. „Wir arbeiten in Dimensionen von wenigen Mikrometern, von Nanometern“, sagt Mücklich. „Und wir arbeiten auch in der atomaren Skala und haben dafür eine Untersuchungstechnik, die es in Deutschland nicht so häufig gibt.“

„Mir geht es darum, dass die Fähigkeiten der Werkstoffe ihren Weg in den Alltag finden“

Frank Mücklich

Zudem bewährt sich die räumliche Nähe zum Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) auf demselben Campus in Saarbrücken. „Wir sind froh, dass DFKI als Nachbarn zu haben“, sagt Mücklich. „Wir arbeiten intensiv zusammen, um die großartigen Möglichkeiten der KI auch für die zukünftige Materialforschung zu erkunden.“

Der in Dresden geborene Forscher leitet an der Saar-Uni den Lehrstuhl für Funktionswerkstoffe, die er anhand eines einfachen Beispiels erklärt: „Wenn Sie mit dem Finger über die Bildschirmoberfläche Ihres Mobiltelefons streichen, wieso weiß das Glas dann, wo der Finger war? Dahinter stecken Funktionswerkstoffe. Wir hier in Saarbrücken sind spezialisiert auf neue metallische Werkstoffe.“ Das Feld für industrielle Anwendungen ist schier endlos, sie reichen von der Medizintechnik bis zu Steckverbindern. Es geht um antibakterielle Eigenschaften, die Verschleißminderung geschmierter Oberflächen oder die Verbesserung der Effizienz von Solarzellen. Besonders Zukunftstechnologien profitieren. Elektrische Steckverbinder, die all die vielen Sensoren und Kameras zuverlässig verbinden und bei Fahrassistenz-Systemen oder dem autonomen Fahren immer wichtiger werden, sind dank der Materialforschung weniger anfällig für Wackelkontakte. Die vielfältigen Möglichkeiten der Laser-Technik haben in Saarbrücken zu Ausgründungen wie SurFunction geführt, die sich mit „direkter Laserinterferenzstrukturierung“ (DLIP) beschäftigen. „Wir wollen mit dieser Technik neue funktionale Oberflächen ohne Chemie und daher umweltschonend erzeugen“, sagt SurFunction-Chef Britz, der sich wie die Forscher am INM an Oberflächenstrukturen in der belebten Natur orientiert. „In der belebten Natur sind praktisch alle Oberflächen strukturiert. Bei Pflanzen und Tieren sorgt die mikroskopisch feine Strukturierung der Oberfläche für optimale Anpassung und zum Beispiel auch für Schutz.“ Die vielfältigen Prinzipien wirken über mikroskopisch feine geometrische Strukturen. Diese können schnell und effizient durch DLIP auf technische Oberflächen übertragen werden, die etwa auch für die Medizintechnik interessant sind.

Die Anwendung der Materialforschung reicht von der Medizintechnik bis hin zu Steckverbindern und das oft nanometergenau. In Saarbrücken arbeiten verschiedene wissenschaftliche Disziplinen eng zusammen um an alltagtauglichen Lösungen zu forschen.

Grüner Stahl aus dem Saarland

Die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen der Wissenschaft ist ein großes Plus im Saarland. So gehen zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und internationale Veröffentlichungen in der Materialwirtschaft und Werkstofftechnik auf das Konto der Zusammenarbeit der Forschungsabteilung des Stahlunternehmens Dillinger mit der Saar-Uni und dem MECS. In den gemeinsamen Forschungsprojekten kommen 3-D-Analysetechniken auf der Mikrometer-, Nanometer- und auch atomaren Skala zum Einsatz, um die inneren Strukturen des Stahls genauer zu verstehen. Wer die gewünschten Eigenschaften des Materials besser vorhersagen kann, erspart sich langwierige Experimente und teure Betriebsversuche. In der Debatte um nachhaltigere Herstellungsmethoden hat in diesem Sinne auch der „grüne Stahl“ für die Industrie an Bedeutung gewonnen.

„Die Stahlindustrie hat schon heute die technologischen Konzepte zur Erreichung des Ziels einer CO₂-neutralen Stahlerzeugung auf Basis von Strom und Wasserstoff“, sagt Karl-Ulrich Köhler, Vorsitzender des Vorstands von Dillinger, der auch für den Bereich Technik verantwortlich ist. Eine erste Anlage zur Nutzung von wasserstoffreichem Koksgas zur Verringerung der CO₂-Emissionen läuft in Dillingen bereits im Regelbetrieb. „Die Dekarbonisierung der Stahlerzeugung hat ein erhebliches Potential, die industrielle CO₂-Emission zu reduzieren“, sagt Köhler. „Da Stahl zu 100 Prozent recyclingfähig ist, kann eine nachhaltige Energie- und Mobilitätswende, etwa durch die Errichtung von Windparks, nicht ohne den Werkstoff gemeistert werden.“ Dennoch könne ein Markt für „grünen Stahl“ erst entstehen, wenn der Begriff durch die Politik eindeutig definiert wird. „Damit der Ausstoß von CO₂ nicht in andere Regionen oder zu den Energieerzeugern verlagert wird, müssen infrastrukturelle Voraussetzungen für die Versorgung der Industrie mit grünem Strom und grünem Wasserstoff geschaffen werden“, sagt Köhler. „Dazu kommt ein weiteres Hindernis: Obwohl Kunden bereits grünen Stahl fordern, sind sie nicht bereit, den Aufpreis dafür zu zahlen.“

Der Löwenanteil der Offshore-Windparks in Europa und weltweit steht laut Köhler auf Stahl von Dillinger. Um die Stahlrohre für Offshore-Windparks anzufertigen, werden Grobbleche benötigt, wie sie Dillinger im Saarland herstellt. Die Stahlrohre („Monopiles“) haben ein Gewicht von bis zu 2400 Tonnen und müssen viele Jahre durchhalten. Die Oberflächen des Stahls müssen also besonders widerstandsfähig sein, wenn sie Phänomenen der Natur wie Stürmen, Wellen und aggressivem Salzwasser auf hoher See trotzen wollen. Auch dafür ist moderne Stahlforschung, beispielsweise am MECS und an der Universität des Saarlandes, so wichtig.

Erschienen im Rahmen einer Content-Kooperation mit dem Verlag der F.A.Z.