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So gelingt die Zukunft des autonomen Fahrens


Nach dem Hype stehen die deutschen Hersteller beim autonomen Fahren auf dem Bremspedal. Kunden warten bisher vergeblich auf den Durchbruch zum Auto der Zukunft. Vielleicht haben sie auch nur die Falschen gefragt. Denn der Durchbruch kommt womöglich von den Zulieferern.

Washington, D.C. im Jahre 2054: Die Wagentür öffnet sich via DNA-Scan, vom Wohnzimmer im 100. Stockwerk aus steigt der Fahrer direkt ins Auto ein, das an der Hauswand entlang in die Tiefe gleitet und unten mühelos in den dichten Verkehr auf der Stadtautobahn einfädelt. Infrarot hält andere Fahrzeuge auf Abstand, die Beleuchtung wechselt mit der Stimmung. Die Szene stammt aus Steven Spielbergs „Minority Report“ und soll im Jahr 2054 spielen. Science-Fiction? Einige der Auto-Gadgets des Films von 2002 sind heute Alltag, etwa die Abstandshaltung zu anderen Fahrzeugen durch Sensorik. Hypermoderne Technik umzusetzen, dafür sind heute längst nicht nur kalifornische Nerds, sondern auch Entwickler in etablierten Unternehmen zuständig.

Doch in Deutschland fährt noch kein autonomes Auto die Hauswände hoch. Es traut sich nicht mal richtig in den Straßenverkehr. Ein mit modernsten Sensoren ausgestatteter Mercedes fährt eine Strecke von 1000 Kilometern im dreispurigen öffentlichen Straßenverkehr auf Autobahnen bei Paris. Bis zu 130 km/h schnell, meistert der Wagen Konvoi-Fahrten mit automatischer Abstandshaltung und autonome Überholmanöver. Nur: Das war bereits vor 26 Jahren. Eine verpasste Chance – selbst nach Maßstäben der in langen Entwicklungszyklen denkenden Automobilindustrie. Trotzdem kommt aus dem Land, das das Auto erfunden und perfektioniert hat, bisher noch kein bahnbrechender Entwurf für das autonome Fahren. Die technologischen Hürden liegen hoch. Sie zu überwinden, daran arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure intensiv. Die Lösung könnte, man glaubt es kaum, aus dem Saarland kommen. Und das hat seine Gründe.

Zulieferer können freier als die großen Markenhersteller agieren, weil sie bei neuen Fahrzeugen keine besonderen Kundenerwartungen erfüllen müssen.»

Christian Müller

Hochqualifizierte Wissenschaftler im Saarland

Autonome Fahrzeuge müssen in Millisekundenbruchteilen die Umgebung in 360 Grad wahrnehmen, ihre Position verifizieren, Gefahrenquellen verfolgen, ihre Fahrmanöver berechnen und durchführen. „Allein auf einer Straßenkreuzung gibt es unzählige Bewegungen einzelner Verkehrsteilnehmer“, sagt Dr. Christian Müller, Leiter des Kompetenzzentrums Autonomes Fahren am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken, in dem 360 hochqualifizierte Wissenschaftler aus mehr als 20 Nationen an etwa 80 Forschungsprojekten arbeiten.

„Multipliziert mit unzähligen Wetter- und Tageslichtsituationen, ergibt dies Milliarden an Parametern, die ein autonomes System berechnen muss, bevor es reagiert.“ Die Rechenleistung aus Künstlicher Intelligenz (KI) macht es möglich, dass ein Fahrzeug Sensordaten in Echtzeit auswerten kann. Daten aus Kameras, Radar- und Lidar gehören dazu. Statt der Radiowellen wie beim Radar kommen bei Lidar Laserstrahlen zum Einsatz, die Abstände zu anderen Fahrzeugen und die Geschwindigkeit messen.

In der saarländischen Kreisstadt Merzig wurde eine Kreuzung mit Kameras ausgestattet, die rein zu Forschungszwecken Objekte wie Fahrzeuge, Fußgänger oder Fahrradfahrer, erkennt. Mit entsprechender Technik ausgestattete Fahrzeuge werden mit Hilfe einer standardisierten Nachricht von der Kreuzung über Position und Bewegungsrichtung der erkannten Objekte informiert. So kann das Fahrzeug ableiten, ob eine Gefahrensituation vorliegt, und den Fahrer rechtzeitig warnen.

60 000 Euro – Nur für das System

Mal angenommen, dass alles klappt. Wir erreichen die magische Automatisierungstufe vier. Das Auto fährt fast von allein, die Fahrerin oder der Fahrer relaxen. Können sie auch. Bis es ans Bezahlen geht. Denn derzeit kostet ein System aus fünf Lidar- und vier Radarsystemen, Kamera und Zentralcomputer über 60 000 Euro. Golf-Klasse klingt anders. Der Preis könnte einer Prognose der Unternehmensberater von Bain zufolge in den nächsten zehn Jahren um mehr als 85 Prozent sinken. Heute würden in erster Linie noch Prototypen- und Teile aus Kleinstserien verwendet. Eine Kostenreduktion bei der Hardware durch Industrialisierung und Skalierung soll dann für einen Preisverfall sorgen. Das wäre der Durchbruch, auf den die Kunden warten. Vielleicht haben sie bisher einfach nur die Falschen gefragt. Denn den Urknall beim vernetzten Fahren wird womöglich nicht ein großer Autohersteller, sondern ein Zulieferer auslösen. Die Branche ist Christian Müller zufolge dafür gut aufgestellt. „Zulieferer können freier als die großen Markenhersteller agieren, weil sie bei neuen Fahrzeugen keine besonderen Kundenerwartungen erfüllen müssen.“

Saarland setzt auf die Vernetzung der Forschung

Damit Deutschlands Vorzeigeindustrie den Sprung nach vorn macht, muss viel passieren. Automobilhersteller und Zulieferer müssen trotz Corona weiter in Zukunftstechnologien investieren und Partnerschaften mit großen Technologiekonzernen eingehen. Forschung und Industrie müssen eng zusammenrücken und Technologie-Cluster bilden. Dafür gibt es Beispiele, und eines findet sich im Südwesten der Republik. Internationale Exzellenz durch Top-Universitäten, kurze Wege zu politischen Entscheidern und die richtige Auto-DNA, das gibt es in dieser Kombination auf kompakter Fläche nur im Saarland. Hier befindet sich mit 42 500 Beschäftigten die höchste Dichte an Automobilbeschäftigten in Deutschland, wie es das Institut der Deutschen Wirtschaft in einer aktuellen Studie ausgewiesen hat. Im Saarland gleicht man den Größenvorteil der amerikanischen Unternehmen durch Vernetzung der Forschung aus, ohne die Amerikaner außen vor zu lassen. Denn Alphabet und Microsoft sind ebenso wie BMW und VW, Bosch und ZF Group Gesellschafter des DFKI. Das letztgenannte Unternehmen hat mit dem „ZF AI & Cybersecurity Center“ im letzten Jahr in Saarbrücken ein Technologiezentrum für Künstliche Intelligenz und Cybersicherheit gegründet und kooperiert mit dem saarländischen Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit (CISPA).

Die Forschungsgruppe Verkehrstelematik der htw saar forscht in Saarbrücken zu Kommunikationsmöglichkeiten von Fahrzeugen untereinander sowie mit der Verkehrsinfrastruktur. Die Versuchsanwendungen haben das Ziel zu mehr Sicherheit, Umweltfreundlichkeit und Effizienz im Straßenverkehr beizutragen.

Zwei Jungs hacken einen Jeep – und bekommen einen Job

Es geht um ein Zukunftsthema: Datensicherheit im Auto. Im Jahr 2015 hackten zwei junge Amerikaner das System eines Jeep Cherokee. Das brachte ihnen ein bisschen Ärger, aber letztlich einen Job beim Fahrdienst-Vermittler Uber ein. An Systemen, die Kommunikation in einem autonomen Fahrzeug absichern, wird im Saarland intensiv geforscht. „Im Auto sind Hunderte von Komponenten vom Gaspedal über die Scheibenwischer bis zur Bremse miteinander vernetzt“, sagt Christian Rossow, leitender Wissenschaftler am CISPA. „Leider reicht es meistens aus, nur eines dieser Komponenten zu manipulieren, um das ganze Auto kontrollieren zu können. Dieses Problem wollen wir lösen.“ Daran arbeiten die Zulieferer mit. „Das ist nicht nur aus Sicherheitsgründen wichtig, sondern auch um das Vertrauen der Menschen in das autonome Fahren zu fördern“, sagt Torsten Gollewski von der ZF Group, die wie Bosch, Dürr und andere weltweit erfolgreichen Zulieferer im Saarland ansässig ist. Auf dem länderübergreifenden Testfeld Deutschland-Frankreich-Luxemburg etwa lassen sich Zukunftsszenarien der Mobilität über Ländergrenzen hinweg untersuchen – Tesla würde hier eine perfekte Infrastruktur vorfinden, die jedem internationalen Vergleich standhält. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW Saar) kooperiert mit Bundes- und EU-Forschungsprojekten und mit der Automobilindustrie. Wenn es ums Prüfen und Testen geht, sind deutsche Ingenieure Weltspitze und werden das auch bleiben: Von knapp 3000 Patenten, die zum autonomen Fahren seit 2010 weltweit registriert wurden, stammt rund die Hälfte aus Deutschland.

Spitzentechnologie – aus St. Ingbert und Püttlingen

Eine zum Patent angemeldete Neuheit ist der Prüfstand der Dürr Group, auf dem sich autonome und teilautonome Fahrzeuge testen lassen. Das Unternehmen rechnet zukünftig wegen der stärkeren Verbreitung von Elektrofahrzeugen zwar mit weniger Abgastests. „Aber Funktionstests und die gesetzlich geforderte Bremsprüfung, die bleiben“, sagt Thomas Kolb von Dürr Assembly Products aus dem saarländischen Püttlingen. Eine halbe Autostunde Richtung Westen, in St. Ingbert, lässt iMAR Navigation auf Prüfgeländen Fahrzeuge autonom fahren. „Da sind zehn Fahrzeuge unterwegs, die tun so, als wären sie normaler Verkehr“, sagt Gründer Edgar von Hinüber. „Und in diesem Pulk von Fahrzeugen ist ein Testfahrzeug unterwegs, das bestimmten Aufgaben unterzogen wird. Wenn da etwas schiefgeht, ist das ärgerlich, aber es kommt niemand zu Schaden.“ Das Unternehmen hat eine Test-Software für hochautomatisierte Autos in verschiedenen Verkehrssituationen entwickelt und forscht auch zu People-Mover-Systemen, automatisch verkehrenden Fahrzeugen für meist kurze Strecken. Diese seien derzeit noch sehr langsam. „Die mit siebzig, achtzig Stundenkilometern fahren lassen, das ist eine Herausforderung, die derzeit noch keiner hinkriegt.“ Aber diese Systeme sind, wenn auch in gemessenem Tempo, bereits weltweit im Einsatz. Etwa bis zum Sommer die autonomen Minibusse am Mainkaiufer in Frankfurt am Main oder die People-Mover-Systeme von ZF für die autofreie und CO2-neutrale Stadt Masdar in Abu Dhabi.

Im Auto sind hunderte von Komponenten vom Gaspedal über die Scheibenwischer bis zur Bremse miteinander vernetzt.»

Christian Rossow

In Zukunft ohne menschlichen Aufpasser

In Zukunft soll das Software im Auto ohne menschlichen Aufpasser hinbekommen. „Künstliche Intelligenz ändert die Fahrzeugarchitektur zum ersten Mal seit Jahrzehnten grundlegend“, glaubt Manuvir Das von Nvidia. Die Technik des amerikanischen Chipkonzerns soll teilautomatisiertes Fahren und eigenständiges Navigieren auf Parkplätzen ermöglichen. Ein Daimler-Modell mit dem gemeinsam entwickelten System soll Ende 2024 auf die Straße kommen. Für die Automobilindustrie womöglich ein Paradigmenwechsel. Ein Auto wäre nicht mehr als Neuwagen am besten, sondern wird durch Software-Updates wertvoller.

Der Urknall beim autonomen Fahren ist womöglich näher als gedacht. Er könnte durchaus in den nächsten zehn Jahren stattfinden – die Autos müssen dann ja nicht gleich wie in „Minority Report“ an Hochhauswänden hoch- und runterflitzen.

Erschienen im Rahmen einer Content-Kooperation mit dem Verlag der F.A.Z.